Erkenntnis und Liebe. Andacht zum 1.7.2016

ANDACHT HÖREN

Das ist ja eine knackige Vorlage, die der Apostel Paulus da den Christinnen und Christen in Korinth präsentiert: Erkenntnis bläht auf, Liebe baut auf!
Dabei haben Liebe und Erkenntnis ziemlich viel miteinander zu tun: Wenn ich Blumen liebe, dann schaue ich genauer hin, ich erkenne mehr, z.B. am Wegesrand oder im Garten. Wenn ich bestimmte benachteiligte Menschen liebe, dann lerne ich, mit deren Augen die Welt zu sehen, erkenne besser ihre Bedürfnisse, ihre Stärken, ihre besonderen Anliegen. Und ich werde mich eher mit ihnen zusammen für sie einsetzen.
Oder in der partnerschaftlichen Liebe: Die Welt mehr und mehr mit den Augen des anderen sehen, gut auf den anderen Acht geben, ihn immer besser kennen lernen wollen. Im Hebräischen ist übrigens „jemanden erkennen“ und „mit jemandem schlafen“ dasselbe Wort. Andererseits: Liebe macht bekanntlich blind. Und manche Paare lernen sich eben nicht beim ersten „Kennenlernen“ richtig kennen, sondern vor der Scheidung. Auch „Du sollst mich kennenlernen!“ ist mehr Drohung als Verheißung.
Aber wenn Erkenntnis eigentlich etwas Gutes ist, und wenn Paulus selbst so ein kluger und belesener Mensch ist, der über große Erkenntnisse verfügt, wie kommt denn ausgerechnet der dazu, die Erkenntnis zu kritisieren? Zu sagen: „Die bläht auf!“?
Ich meine: „Aufgebläht“ ist die Erkenntnis, wenn sie ohne Liebe ist. Wenn ich beispielsweise dauernd einen anderen Menschen besser zu kennen meine als der sich selbst. Wenn ich immer besser weiß, was für andere gut ist. Wenn ich nicht MIT den Augen des anderen die Welt sehe, sondern über den Kopf des anderen hinweg.
Für Leute mit aufgeblähter Erkenntnis gibt es ein paar unfreundliche Bezeichnungen: „Besserwisser“, „neunmalklug“, „der hat die Weisheit mit Löffeln gefressen!“, „Klugscheißer“.
Die Neunmalklugen, das sind übrigens immer die anderen. Oder sind Sie das auch, neunmalklug? Na ja, wahrscheinlich schon. Ich jedenfalls. Manchmal. Wenn andere mich allerdings als Besserwisser bezeichnen, haben sie damit aber nicht automatisch recht. Manchmal weiß ich ja wirklich etwas besser. Mag sein, ich habe es ungeschickt, eben „besserwisserisch“, rüber gebracht. Oder die anderen neiden es mir.
Und umgekehrt: Wenn Sie jemand anderen für einen Besserwisser halten, könnte es sein, dass Sie Recht haben. Es könnte aber auch sein, dass Sie neidisch sind. Oder auf Biegen und Brechen an Ihrer Wahrheit festhalten wollen, „müssen“.
Oder haben Sie immer Recht mit Ihrer Einschätzung? Falls Sie auf die Frage ein unbekümmertes „Ja“ haben, sind Sie es ganz sicher, ein Besserwisser oder eine Besserwisserin.

Erkenntnis ohne Liebe bläht auf. Ich kann mich mit meinen tollen Einsichten wichtig machen, ich kann andere abkanzeln, ich kann vor den anderen in einem tollen Licht dastehen. Und wenn mich trotz meiner super Erkenntnisse keiner toll findet – na, dann sind die anderen eben alles Idioten. Was will man von denen schon anderes erwarten?!
Aufgeblähtes, liebloses Erkennen, das gibt es leider auch im Glauben. Dort vielleicht sogar besonders. Es gibt ein paar Symptome für aufgeblähte Glaubens­erkennt­nisse:

  • Die Überzeugung, „alles“ zu wissen. Nicht mehr auf der Suche sein.
  • Viel Reden, wenig Hören.
  • Schnell in „richtig“ und „falsch“ einteilen. Urteile fällen, dass die anderen Falsch-Gläubige oder Un-Gläubige oder „noch nicht so weit“ sind.
  • Der Drang, andere zu überzeugen.
  • Häufiger Wechsel der Glaubens-Gemeinschaft / der Gemeinde. Schließlich erweist sich jede als nicht so ganz hundertprozentig.
  • Sich nicht in andere hinein versetzen, ihre anderen Glaubens-Überzeugungen und Glaubensweisen nicht respektieren und nicht würdigen.
  • Die anderen für verbohrt halten, aber niemals sich selbst.

Wie gesagt: So sind ja immer nur die anderen …
Und an wen denkt Paulus bei diesen Erkenntnis-Aufgeblähten? Er schreibt an die Gemeinde in Korinth, und er kritisiert mutig ein paar tonangebende Leute in dieser Gemeinde.
Ein großes Streit-Thema dort: Wie halten wir es als Christen mit dem „Götzenopfer-Fleisch“? Also mit dem Fleisch, das es auf dem Markt oder bei einer Einladung zu essen gibt? Schließlich könnte das Tier dazu bei einer Opferfeier für eine Gottheit geschlachtet worden sein!

Die Erkenntnis bläht auf; aber die Liebe baut auf. (…) Was nun das Essen von Götzenopfer-Fleisch angeht, so wissen wir, dass es keinen Götzen gibt in der Welt und keinen Gott als den einen. (…)
Aber nicht jeder hat die Erkenntnis. Denn einige, weil sie bisher an die Götzen gewöhnt waren, essen’s als Götzenopfer; dadurch wird ihr Gewissen, weil es schwach ist, befleckt. (…)
Seht aber zu, dass diese eure Freiheit für die Schwachen nicht zum Anstoß wird! Denn wenn jemand dich, der du die Erkenntnis hast, im Götzentempel zu Tisch sitzen sieht, wird dann nicht sein Gewissen (…), verleitet, das Götzenopfer zu essen? Und so wird durch deine Erkenntnis der Schwache zugrunde gehen, der Bruder, für den doch Christus gestorben ist. Wenn ihr aber so sündigt an den Brüdern und verletzt ihr schwaches Gewissen, so sündigt ihr an Christus. Darum, wenn Speise meinen Bruder zu Fall bringt, will ich nie mehr Fleisch essen, damit ich meinen Bruder nicht zu Fall bringe. (aus 1. Korinther 8)

Hier geht es noch nicht um Tier- oder Umweltschutz, nicht um vegetarisch und vegan, sondern nur um die Götter-Frage. Und da sagt Paulus: „Was das angeht, kann ich – nur für mich – beruhigt alles essen. Es gibt ja nur den einen Gott – und keine Götzen!“
„Jawoll!“, sagen da die religiös Erkenntnis-Aufgeblähten in Korinth, „das sehen wir genau so! Und so leben wir es! In aller Freiheit! Guten Appetit!“
Und da kommt das große ABER des Paulus: „Aber was ist mit der LIEBE? Mit der RÜCK-Sicht? Auf diejenigen nämlich, die das anders sehen, die da ein ‚engeres‘ Gewissen haben? Lebt Eure Freiheit! – Aber möglichst so, dass andere nicht dazu verleitet werden, gegen ihr Gewissen zu handeln! Denn was für Euch OK ist, ist es für die anderen nicht! Liebe! Rücksicht!“
Also: Für Erkenntnis „mit Liebe“ zählt nicht nur, wer recht hat. Sondern in Liebe Rücksicht auf die zu nehmen, die es anders sehen und anders leben wollen.
Kein Patentrezept für alle Konfliktfälle. Aber immerhin eine gute Leitlinie, um in Liebe Gemeinschaft aufzubauen, egal, ob Familie, Gemeinde, Gesellschaft oder Kleingarten­verein: Rücksicht auf die Gewissensentscheidung des anderen! Auch wenn der zu Erkenntnissen kommt, die mir zu „eng“ oder auch zu „frei“ sind.
Ich mag ja die Formulierung „christliche Moral“ nicht. Aber wenn schon „christliche Moral“, dann ist sie kein starres Regelwerk. Sondern die Bereitschaft, den anderen in seinem Anders-Sein, Anders-Denken und Anders-Leben zu ertragen.

Gebet:
Christus voller Liebe! In Dir liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Hilf mir dabei, mich und meinen Nächsten mit Deinen Augen zu sehen, zu erkennen! Amen.

Über Dirk Klute

Dirk Klute, Jahrgang 1965. Ich bin promovierter Theologe und Dipl.-Psych., arbeite als Pfarrer in einer Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie und in einer Maßregelvollzugsklinik. Ich lebe in Münster (Westfalen). Ich fahre viel Fahrrad und mache gern Musik.
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