Singen, dass die Wände wackeln. Andacht zum 28.10.2016

ANDACHT HÖREN

Wir befinden uns im Zuchthaus, Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Zuchthäusler sitzen in ihren Anstaltsuniformen im Gottesdienst. Einer von ihnen ist Wilhelm Voigt, der spätere “Hauptmann von Köpenick”. Sie singen einen Choral: “Bis hierher hat mich Gott gebracht / durch seine große Güte!” Ein zynischer Scherz, den sich Carl Zuckmeyer als Autor da ausgedacht hat.
Gott ein Loblied zu singen dafür, DASS man in eine schlimme Lage geraten ist, das ist zynisch. Oder ironisch. Aber zu singen, OBWOHL es so fürchterlich ist, das kann eine enorme Kraft entfalten. Das kann Hoffnung machen, das kann Mut geben. Denken Sie an die Spirituals der Sklaven in Nordamerika – voller Glauben, Hoffnung, Freiheit. Oder an die „Moorsoldaten“ aus einem KZ im Emsland: „… doch für uns gibt es kein Klagen, / ewig kann’s nicht Winter sein. / Einmal werden froh wir sagen: / Heimat, du bist wieder mein …!“ Manche Lieder in den osteuropäischen Ghettos aus der Nazi-Zeit hatten eine atemberaubende Dichte und Kraft.
Singen in Gefangenschaft, Singen trotz ungewissen Ausgangs, Singen an einem „gottverlassenen“ Ort und zu unmöglicher Uhrzeit. Gott trotz allem loben. Das alles begegnet uns in einer Geschichte um die Missionare Paulus und Silas.
Was ist passiert? Paulus, Silas und Timotheus sind in Philippi im heutigen Griechenland angekommen. Kurz danach gibt es schon die erste Christin: Lydia.
Schön und gut so weit. Aber wenn das Evangelium für gewisse Leute geschäftsschädigend wird, dann gibt es Ärger. Und genau das passiert: Paulus heilt eine Sklavin mit ihrem „Wahrsagegeist“. Schlimm, wenn man als Sklavin von anderen Menschen besessen wird. Schlimmer, wenn man obendrein „innen drin“ unfrei ist, eben „besessen“. Gut für die Frau, dass sie nun Befreiung erlebt. Gut für die Frau – aber schlecht für‘s Geschäft ihrer Besitzer …

Als aber ihre Herren sahen, dass sie keinen Gewinn mehr erwarten konnten, ergriffen sie Paulus und Silas, schleppten sie auf den Markt vor die Stadtbehörden, führten sie den obersten Beamten vor und sagten: Diese Männer bringen Unruhe in unsere Stadt. Es sind Juden; sie verkünden Sitten und Bräuche, die wir als Römer weder annehmen können noch ausüben dürfen. Da erhob sich das Volk gegen sie und die obersten Beamten ließen ihnen die Kleider vom Leib reißen und befahlen, sie mit Ruten zu schlagen. Sie ließen ihnen viele Schläge geben und sie ins Gefängnis bringen; dem Gefängniswärter befahlen sie, sie in sicherem Gewahrsam zu halten. Auf diesen Befehl hin warf er sie in das innere Gefängnis und schloss zur Sicherheit ihre Füße in den Block. (Apg 16, 19-24)

Da sitzen sie nun im finstersten Verließ, nackt, mit unversorgten Wunden, die Füße im Block. Wie wird das ausgehen? Kommen sie nochmal hier raus? Werden sie hier verenden?
Manch einer wird jetzt wimmern oder schreien. Oder in Schweigen und Apathie verfallen. Aber Paulus und Silas machen es anders. Machen es wie später die Sklaven auf den Baumwollfeldern. Sie singen. Laut. Zu Gott. Lob-Lieder:

Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und sangen Loblieder; und die Gefangenen hörten ihnen zu. (V 25)

Wohlgemerkt: Sie singen NICHT “Bis hierher hat mich Gott gebracht!” Sie reden sich nichts schön, sie reden sich nicht irgendeinen Sinn ein. Nein, sie loben Gott. Trotz allem. Und wer zu Gott singt, der hofft auch: Gott hört das! Gott ist hier! Gott ist sogar an diesem gottverlassenen Ort!
Die Mitgefangenen hören es auch. Keine Ahnung, wie sie reagiert haben. Der eine schweigt vielleicht betroffen. Ein anderer schreit ihnen sein verzweifelt-aggressives “Haltet doch das Maul!” entgegen. Noch ein anderer fängt an mit zu summen. Oder, oder.
Paulus und Silas singen für Gott. Nicht für die anderen. Eher trotz der anderen. Sie trauen sich das. Sie erheben ihre Stimme. Sie lassen sich hören.
Was nun folgt, ist im Wortsinn “erschütternd”:

Plötzlich begann ein gewaltiges Erdbeben, so dass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Mit einem Schlag sprangen die Türen auf, und allen fielen die Fesseln ab. (V 26)

Es ist wie mit den Posaunen vor Jericho: Die Mauern stürzen, Türen springen auf, Fesseln fallen ab. Ein Wunder! Singen befreit!
Wobei: Sie und ich wissen doch: Längst nicht jede Sing-und-Bet-Geschichte endet so wunderbar, so “gut”. Jedenfalls nicht, so weit unsere Augen das Ende einer Geschichte sehen können. Trotzdem: Singen befreit! Die Lieder zu Gott haben Paulus und Silas ihre innere Freiheit gegeben, obwohl die Mauern zunächst noch fest standen, obwohl die Füße im Block waren, die Wunden schmerzten und ein “Happy End” nicht in Sicht war.
Also: Es gibt kein Abo auf ein befreiendes Erdbeben. Nehmen Sie dieses Erdbeben als ein Ausrufezeichen hinter der inneren Freiheit, die Paulus und Silas hier beim Singen zu Gott gewinnen.
Die Geschichte ist noch nicht zuende: Für den Gefängniswärter sind die offenen Türen eine Katastrophe. Er will sich ins Schwert stürzen. Paulus kann ihn gerade noch hindern.
Und dann beginnt für den Wärter noch in dieser Nacht im Gespräch mit den Aposteln seine eigene Befreiungs-Geschichte. Sie endet damit, dass der Wärter und seine Angehörigen sich taufen lassen, dass dieser Vollstrecker des Üblen nun die Striemen seiner Opfer wäscht und sie zu Tisch bittet. Aber diese Befreiung ist schon fast wieder eine andere Geschichte …

Aber was geht’s uns an? Wo wir doch nicht im Gefängnis sitzen und Ihnen vielleicht Erfahrungen von Gefangenschaft oder Gewalt erspart geblieben sind?
Zunächst: Es gibt auch Gefängnisse, die nichts mit “JVA” zu tun haben. Gefängnisse, deren Insassen fast alle schon mal waren – oder sind: Das Gefängnis der sorgenvollen Grübel-Gedanken, die sich einfach nicht stoppen lassen. Das Gefängnis der Angst. Das Gefängnis einer Krankheit oder Behinderung – mit all den Schmerzen oder Einschränkungen. Beziehungen zu anderen Menschen können zum Gefängnis werden. Oder die Fesseln einer Sucht. Oder wenn Sie arm sind und viele Möglichkeiten Ihnen versperrt sind. Oder ein Stigma, ein schlechter Ruf. Oder, oder … Vielleicht überlegen Sie für an dieser Stelle: Was könnte heute gerade IHR Gefängnis sein? (…)
Jetzt denken Sie vielleicht: “Gleich erzählt er mir, dass all diese Gefängnis-Mauern einstürzen, wenn ich wie Paulus und Silas Gott meine Loblieder singe!” Nein, falsch gedacht. Manche Mauern bleiben lange, sehr lange stehen.
Gott laut zu loben, das wird Sie zwar vielleicht auch mal AUS Ihrem Gefängnis befreien, aber wahrscheinlich kann es Sie IN Ihrem Gefängnis befreien! Darum: Wie hoch auch immer die Mauern sind, die Sie umgeben, die Sie erdrücken: Sie können Ihr Lied, Ihr Gebet über die Mauer werfen als Anker. Direkt zu Gott. Gott hört Sie!
Übrigens: Als ein inhaftierter Bekannter von mir vor einiger Zeit in ein anderes Gefängnis verlegt wurde, da hat er mir geschrieben, dass er vor allem das Singen im Chor vermisst. Na, vielleicht findet er in der neuen JVA ja ein paar Sänger. Oder er traut sich das Singen allein.
Und Sie? Heute? Wenn Sie sich durch diese Geschichte anregen lassen, irgendwann im Laufe des Tages ein Lied zu singen, allein oder wie Paulus und Silas mit anderen, oder mit Ihrer Stimme ein Gebet zu sprechen (also nicht nur „im Herzen“), dann könnten Sie etwas von dieser Freiheit, von Kraft, Mut und Hoffnung spüren. Dann wirken die Lieder von Paulus und Silas über die Jahrhunderte hinweg bis in Ihren heutigen Tag hinein.

Gebet:

Gott, Du hast uns eine Stimme gegeben. Mit ihr können wir jubeln und klagen, sagen, was los ist, bitten, danken, fragen. Gott, so gut manchmal Schweigen ist – gibt Du, dass wir auch unsere Stimme erheben! Amen.

Über Dirk Klute

Dirk Klute, Jahrgang 1965. Ich bin promovierter Theologe und Dipl.-Psych., arbeite als Pfarrer in einer Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie und in einer Maßregelvollzugsklinik. Ich lebe in Münster (Westfalen). Ich fahre viel Fahrrad und mache gern Musik.
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